Allegorese in Byzanz
Die Weisheit Salomons und die Anfänge der biblisch-allegorischen Narration in Konstantinopel
Biblische Bildkunst wurde in den Werkstätten Konstantinopels des 6. Jahrhunderts als allegorische Erzählung von Gott neu konzipiert. Der mythologische Wahrheitsdiskurs war verblaßt. Er lebte in der Bildung fort. Seine Auslegungsmethode aber, die Allegorese, wie auch ihre Darstellungsmittel des Naturalismus und des Verismus wurden nun auf alt- und neutestamentliche Erzählungen übertragen. Griechische Allegorese, wörtlich das andere Sprechen, das in der Klassik eine vertiefte Wahrheit des Kosmos und in hellenistischer Zeit eine verborgene oder verrätselte Weisheit umschrieb, bezeichnete nun die Vorsehung Gottes, die Gottesnähe der Herrschaft und die überzeitliche Handlung der Liturgie. Scheinbar bekannte Hauptwerke des 6. Jahrhunderts wie die Elfenbeinkathedra in Ravenna, der Purpurcodex von Rossano, die zyprischen Silberschalen zum Davidleben und die Salomon Miniatur in Kopenhagen werden in diesem Buch neu erschlossen.
Die allegorische Erzählweise muß allerdings vom Betrachter als zweite, den Bildern hinterlegte Lesart erst erkannt werden. Risse des Erzählfadens, Brüche des Bildaufbaus und Sprünge der Figurenproportionen wie auch verfremdende, deplazierte Gegenstände führen auf ihre Spur. Der biblische Textbezug und seine wortnahe Auslegung eröffnen innere typologische Zusammenhänge. Rhetorische Stilmittel der Inklusion, der Doppelung und der Kontrastierung wie auch der vollständigen Überformung verknüpfen diese Szenen. Gesteigerte Realitätszuschreibungen durch Emotionalität und Lebensnähe der Handlung und durch den abstrakten Verismus der Realien vertiefen den Wahrheitsanspruch der Narration. In der neuplatonischen Visualität des Bildes kommt die nicht darstellbare, geistige Wahrheit der trinitarischen Gottesordnung zur Anschauung.